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Die Berliner Demografie-Tage dienen als Diskussionsplattform, die Entscheidungstragende aus Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft zusammenbringt, um aktuelle gesellschaftliche Fragen des demografischen Wandels zu erörtern.
Zum Thema:
Vereinfachende Schuldzuweisungen als Erklärung für den Vertrauensverlust in demokratische Institutionen greifen in der Regel zu kurz. Gleichzeitig stellt sich aus demografischer Perspektive etwa die Frage, wie sich sozialer Zusammenhalt stärken lässt und wie Abstiegsängsten, insbesondere in peripheren Räumen, den daraus resultierenden antidemokratischen Ressentiments und dem Misstrauen in staatliches Handeln, entgegengewirkt werden kann. Dabei zeichnen sich vier Themenfelder ab, deren politische Bearbeitung besonders dringend erscheint: regionale Disparitäten in der Daseinsvorsorge, der Fachkräftemangel als Herausforderung für wirtschaftliche Prosperität, die Gestaltung gesellschaftlicher Teilhabe und die sich wandelnde Wahrnehmung sozialer Ungleichheiten. Alle vier Themenbereiche wurden deshalb während der Hauptveranstaltung der Berliner Demografie-Tage diskutiert, mit dem Ziel, politische Handlungsoptionen auf der Basis demografischer Evidenz aufzuzeigen.
Bereits im April und Juni dieses Jahres hatten zwei Vorbereitungsworkshops stattgefunden. Sie finden die Zusammenfassungen dieser Vorbereitungsworkshops hier:
Alle Videoaufzeichnungen der Berliner Demografie-Tage 2025 finden Sie auf unserem YouTube-Kanal.
Disclaimer: Die von den einzelnen Teilnehmenden geäußerten Meinungen spiegeln nicht unbedingt die Meinung von Population Europe wider, noch die der Europäischen Union. Die Europäische Union ist nicht verantwortlich für die Verwendung der hier enthaltenen Informationen.
Wie wirken sich regionale Disparitäten auf den sozialen Zusammenhalt aus?
Trotz des im Grundgesetz formulierten Ziels (Art. 72 GG), in Deutschland die „Gleichwertigkeit“ der Lebensverhältnisse herzustellen, bleiben die tatsächlichen Unterschiede bei Wirtschaftskraft, Finanzausstattung und öffentlicher Daseinsvorsorge weiterhin groß. Die Ostdeutschen Bundesländer haben in den vergangenen 35 Jahren eine gewaltige Transformations- und Aufholleistung vollbracht. Im Hinblick auf die Wirtschaftskraft haben sich Ost- und Westdeutschland nahezu (mit Ausnahme der Großstädte) angeglichen, doch viele Regionen – besonders periphere ländliche Räume im Osten – kämpfen mit einer „schwächelnden“ Daseinsvorsorge.
Unter Daseinsvorsorge ist die öffentliche Bereitstellung und Zugänglichkeit von Leistungen, die von existenzieller Bedeutung sind, wie etwa Bildung, Gesundheitsversorgung oder Mobilität zu verstehen. Schrumpfen regionale Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland, verschärft sich gleichzeitig die Kluft zwischen wirtschaftsstarken Metropolregionen und abgelegenen ländlichen Räumen. Daraus ergibt sich die politische Herausforderung, regionale Disparitäten auf unterschiedlichen Ebenen der Infrastruktur, medizinischen Versorgung, Kinderbetreuung etc. zu verringern und somit eine ausgewogene Teilhabe an zentralen gesellschaftlichen Ressourcen zu sichern, wobei die Berücksichtigung lokaler Bedürfnisse im Vordergrund steht.
"Die Wahrnehmung von Defiziten führt zu einer größeren Unzufriedenheit mit der Lebenssituation."
Claudia Neu, Professorin für die Soziologie ländlicher Räume an den Universitäten Göttingen und Kassel und Principal Investigator des We-ID Projekts, verdeutlichte, dass größere Entfernung zu Angeboten der Daseinsvorsorge, die besonders Menschen im ländlichen Raum betreffen, mit einer geringeren Zufriedenheit mit dem Wohnumfeld einhergehen. Zudem verstärke die Abwesenheit daseinsvorsorgender Infrastruktur und sozialer Räume Einsamkeit, Isolation und Exklusion. In einer alternden Bevölkerung wird auch die medizinische Grundversorgung eine größere Bedeutung einnehmen. Die Wahrnehmung von Defiziten in dieser Hinsicht führt zu einer größeren Unzufriedenheit mit der Lebenssituation und schwächt das Vertrauen in demokratische Institutionen.
In der politischen Debatte ist dabei oft vom Gefühl des „Abgehängtseins“ die Rede. Dieses Gefühl, sich außerhalb der Reichweite staatlicher Dienstleistungen und damit der Daseinsvorsorge zu befinden, ist einerseits unmittelbar mit der wirtschaftlichen Prosperität einer Region verbunden. Andererseits spielt die Wahrnehmung der regionalen Lebensqualität eine entscheidende Rolle, beides kann, muss aber nicht deckungsgleich sein.
"Populistische oder rechtsextreme Parteien werden am ehesten dort gewählt, wo der Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen schlecht ist."
Neu verdeutlichte, dass Defizite in der Daseinsvorsorge daher besondere Anschlussfähigkeit für rechte Bedrohungsszenarien böten, wie sie bereits in einem Policy Insight im Kontext der Vorbereitungsworkshops argumentiert hatte. So würden populistische oder rechtsextreme Parteien am ehesten dort gewählt, wo der Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen schlecht ist. Zudem schüfen diese disruptiven Strömungen oft alternative Strukturen und Initiativen dort, wo der Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen weniger gut ist. Zudem schüfen diese disruptiven Strömungen oft alternative Strukturen und Initiativen dort, wo staatliches und zivilgesellschaftliches Engagement fehle. Das verdeutliche erneut, wie wichtig die Verfügbarkeit und Erreichbarkeit von daseinsvorsorgenden Leistungen für die Demokratiezufriedenheit seien.
Auch in anderen EU-Ländern verschärfen sich regionale Unterschiede durch die Abwanderung junger Menschen und insbesondere von Frauen, was zu einer alternden und eher männlich dominierten Bevölkerung in vielen ländlichen Regionen führt. Wie die Professorin für die Soziologie ländlicher Räume Bettina Bock an der Wageningen University & Research betont, ist das ländliche Europa nicht homogen: Ländliche Regionen unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Geografie, Geschichte, Migrationsmuster und politischen Aufmerksamkeit. Für diese Regionen stellt sich die Frage, ob Zuwanderung aus dem Ausland diesen Trends entgegenwirken könnte und wie dabei der soziale Zusammenhalt und die Vielfalt der ländlichen Bevölkerung gestärkt werden kann. Politik kann hierbei unterstützend eingreifen, indem sie ihre Fördermaßnahmen an die Beweggründe anpasst, die Menschen zu einer Zu- beziehungsweise Abwanderung veranlassen. Denn hier gibt es deutliche Unterschiede, zwischen den sozialen Gruppen; sei es das Fehlen von bezahlbarem Wohnraum, staatlichen Dienstleistungen, Kindertagesbetreuung, angemessener Berufschancen oder sozialer Orte.
Politische Handlungsoptionen
- Finanzielle Sanierung der Kommunen: Insbesondere im Bereich der Daseinsvorsorge und Infrastruktur gibt es große Investitionsstaus auf kommunaler Ebene. Um das Vertrauen in staatliche Institutionen zu stärken, muss die flächendeckende Verfügbarkeit und Erreichbarkeit von daseinsvorsorgenden Leistungen und öffentlichen Institutionen vor Ort sichergestellt werden. Denn dort wird der demografische Wandel am stärksten wahrgenommen.
- Stärkung des sozialen Zusammenhalts im ländlichen Raum: Der Verlust von sozialen Räumen als Treff- und Austauschpunkte (wie Gaststätten, Jugendtreffs etc.) verschlechtert das Vertrauen in sozialstaatliche Institutionen zusätzlich. Des Weiteren sollte soziales Engagement stärker gefördert werden. Dabei sollte mit Bedacht vorgegangen werden und auf lokale Diversität und bereits etablierte Strukturen und Initiativen Rücksicht genommen werden.
- Verfügbarkeit daseinsvorsorgender Leistungen sichtbarer machen: Der Sozialstaat, der Schutz und Teilhabe sowie gesellschaftliche Mitwirkung ermöglicht, muss vor Ort sichtbar sein, um dem Gefühl des "Abgehängtseins" entgegenzuwirken.
- Demografische Vielfalt und Migration: Die Migration in ländliche Räume umfasst sowohl Binnenmobilität als auch internationale Zuwanderung. Viele junge Familien und Fachkräfte ziehen wegen der Lebensqualität und der niedrigeren Wohnkosten um. Der demografische Wandel bietet hier sowohl Risiken als auch Chancen. Bevölkerungsrückgang und Alterung erzeugen einerseits strukturellen Druck – schaffen aber andererseits auch die Notwendigkeit von Innovationen, von neuen Pflegemodellen und der Stärkung unterrepräsentierter Gruppen wie Frauen, Jugendlichen und Migrantinnen und Migranten.
- Die Gleichstellung der Geschlechter sollte als Variable der ländlichen Entwicklung betrachtet werden und nicht nur als soziales Ziel. Regionen mit einer höheren Gleichstellung der Geschlechter weisen eine stärkere Innovationsleistung und ein stärkeres Bevölkerungswachstum auf. Die stärkere Erwerbsbeteiligung von Frauen erweitert das Sozialkapital und Innovationspotenzial.
- Vielfältige Formen des Zusammenhalts. Zusammenhalt darf nicht nur im Hinblick auf Zugewanderte und Einheimische betrachtet werden, sondern muss auch über Generationen, Geschlechter und soziale Schichten hinweg gewährleistet werden.
Welche Herausforderungen entstehen durch den Fachkräftemangel?
Der in unterschiedlichen Segmenten von Wirtschaft und Gesellschaft immer deutlicher spürbare Fachkräftemangel geht mit politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen einher, deren Bewältigung angesichts der zunehmenden Alterung der Bevölkerung immer vordringlicher wird. Sinkende Erwerbspersonenpotenziale, insbesondere wenn die letzten geburtenstarken Jahrgänge der Babyboomer in den nächsten zehn Jahren das Renteneintrittsalter erreichen, beeinflussen die Wirtschaftsleistung nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Mitgliedsstaaten Europas. Dies hat auch Auswirkungen auf die demokratischen Institutionen, da mit wirtschaftlichen Problemen immer auch Abstiegsängste einhergehen und gleichzeitig das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit der staatlichen Akteure schwindet.
"Fachkräfte tendieren dazu, sich dort anzusiedeln, wo sie einen funktionierenden Arbeitsmarkt vorfinden."
Der Fachkräftemangel trifft dabei besonders ländliche Regionen und kleinere Städte, die bei der Anwerbung ausländischer Fachkräfte oft nicht mit den urbanen Zentren konkurrieren können. zugewanderte Fachkräfte tendieren eher dazu, sich dort anzusiedeln, wo sie einen funktionierenden Arbeitsmarkt vorfinden, oder wo etwa die Daseinsvorsorge gesichert ist.
Trotz des hohen Bedarfs an Fachkräften in ländlichen Räumen nimmt die Zuwanderung stark ab, was unter anderem auf eine Einwanderungspolitik zurückzuführen ist, die es sich zum Ziel gesetzt hat, einerseits Zuwanderung stark zu kontrollieren, andererseits besonders hochqualifizierte Fachkräfte anzuwerben. Diese selektive Zuwanderungspolitik wird eher nicht als Anzeichen einer migrationsfreundlichen Willkommenskultur wahrgenommen. Dieses Spannungsverhältnis gilt es, insbesondere im Hinblick des Fachkräftemangels in Berufen, die weniger hohe Berufsqualifikationen erfordern, aufzulösen.
Politische Handlungsoptionen:
- Tätigkeits- und Branchenwechsel erleichtern: Tätigkeits- und Branchenwechsel sollten erleichtert werden, um lebenslanges Lernen und flexible Erwerbsverläufe zu ermöglichen. Mehr Flexibilität in der beruflichen Mobilität sowie gezielte Angebote zur Fort- und Weiterbildung würden sich positiv auf die Erwerbsbeteiligung älterer Menschen auswirken.
- Vereinfachung der Anerkennung ausländischer Abschlüsse: Anziehungskraft allein reicht nicht aus – Aktivierung ist der Schlüssel. Verfahren zur Anerkennung ausländischer Abschlüsse sollten vereinfacht und beschleunigt werden.
- Globale Nachfrage, nationale Beschränkungen: Migrantinnen und Migranten und Arbeitgeber sehen sich gleichermaßen mit uneinheitlichen Regelungen und unerwarteten politischen Kurswechseln konfrontiert. Einwanderungsgesetze gehen nach wie vor von festen Arbeitsplätzen und langfristigen Verträgen aus und ignorieren hybride Arbeitsmodelle, insbesondere in digitalen Unternehmen und Start-ups.
- Ehepartner von Zugewanderten können ebenfalls Fachkräfte sein. Ehepartner, die denselben Beruf ausüben oder hochqualifiziert sind, benötigen schnellere Zugangsmöglichkeiten zum Arbeitsmarkt und Anerkennung.
- Regionale Willkommenskultur stärken: Eine offene, wertschätzende Haltung gegenüber Zugezogenen – ob aus dem In- oder Ausland – ist entscheidend, um Fachkräfte langfristig zu halten. Lokale Akteure könnten dabei etwa stärker hervorheben, dass Zugewanderte wichtige Dienstleistungen erbringen und die regionale Wirtschaft aufrechterhalten.
- Ein Narrativwechsel ist entscheidend. Migration darf nicht als Risiko betrachtet werden, sondern als Erneuerung – als Teil der wirtschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Infrastruktur Europas.
- Betriebe als soziale Orte stärken: Unternehmen sollten gezielt unterstützt werden, ihre Rolle als Gemeinschafts- und Integrationsorte auszubauen. Betriebe können so als soziale Orte gestärkt werden.
- In frühkindliche Bildung investieren: C. Katharina Spieß, Direktorin des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB), plädierte dafür, besonders in frühkindliche Bildung zu investieren: Frühkindliche Bildungsangebote bieten eine hohe gesellschaftliche und ökonomische Rendite und sind zentral für Chancengerechtigkeit und Fachkräftesicherung. Insbesondere bei Kindern mit Migrationshintergrund kommt das volle Potenzial frühkindlicher Bildung zum Tragen. Der Ausbau von Kindertagesstätten und Grundschulen ermöglicht zudem eine Steigerung der Erwerbsbeteiligung von Müttern. Sie liefern besonders im ländlichen Raum einen wichtigen Beitrag zur regionalen Daseinsvorsorge.
- Den Demokratie- und Wohlfahrtsstandort Deutschland bzw. Europa stärken: Deutschland und Europa müssen im globalen Wettbewerb um Fachkräfte durch verlässliche Institutionen, soziale Sicherheit und demokratische Stabilität attraktiv bleiben. Europa muss erneut bestätigen, dass wirtschaftliches Wachstum und Vielfalt sich gegenseitig verstärken.
- Daseinsvorsorge in strukturschwachen Regionen priorisieren: Eine gesicherte Infrastruktur vor Ort stärkt die Lebensqualität und Bindungskraft ländlicher Räume. Hierdurch lassen sich auch Abwanderungsrisiken von zugewanderten Fachkräften reduzieren und neue Fachkräfte aus dem Ausland anwerben.
- Die Kooperation über politische Ebenen hinweg fördern: Bund, Länder und Kommunen sollten abgestimmt handeln. Bestehende Initiativen wie das Demografieportal der Länder bieten hierfür bewährte Ansätze. Bei der Einwanderungspolitik sollten regionale und kommunale Akteure stärker eingebunden werden, da sie die lokalen Fachkräftebedarfe am besten einschätzen können.
Wie sollte demokratische Teilhabe gestaltet werden?
Demokratische Teilhabe wird nicht allein durch das Wahlrecht, die Staatsbürgerschaft oder eine Zugehörigkeit zu den vorherrschenden Identitätsangeboten bestimmt, sondern hängt im Wesentlichen davon ab, ob sich Menschen in demokratischen Prozessen gehört, vertreten und geschätzt fühlen. Demokratische Partizipation wird früh im Leben durch Sozialisation und politische Bildung erlernt und geprägt. Sie entwickelt sich, wenn Menschen demokratische Normen wie Diversität, Dialog und gegenseitigen Respekt verinnerlichen. Die unter den Bedingungen des demografischen Wandels zunehmende Bevölkerungsdiversität verunsichert Teile der Gesellschaft, verstärkt Gefühle von Enttäuschung, Angst und Ressentiments und schafft dadurch einen Angriffspunkt für disruptive und autoritäre Bewegungen.
"Die Anerkennung unterschiedlicher kultureller Sichtweisen in politischen Prozessen ist maßgeblich für das Vertrauen in demokratische Institutionen."
Auf der anderen Seite werden insbesondere jüngere Menschen und Menschen mit Migrationshintergrund in demokratischen Prozessen minorisiert. Es wurde im Panel diskutiert, dass sie in Zukunft stärker in Entscheidungsprozesse einbezogen und mehr gehört werden sollten. Michèle Lamont, Professorin für Soziologie und Europa-Studien an der Harvard University, argumentierte, dass die Anerkennung unterschiedlicher kultureller Sichtweisen in politischen Prozessen maßgeblich für das Vertrauen in demokratische Institutionen ist. Die politische Teilhabe sei immer noch viel zu oft an die ethnische oder nationale Identität und weniger an gemeinsame staatsbürgerliche Werte gebunden. Erfolgreiche Demokratien beruhten auf den von der Gesellschaft akzeptierten Regeln und Normvorstellungen, die ihre gesellschaftliche Funktion unabhängig von ethnischen oder nationalen Identitäten erfüllten. Die Stärkung einer bürgerlichen und demokratischen Identität bedeute daher, Vielfalt und Gleichheit zu fördern.
Schließlich müssen nach Ansicht der Teilnehmenden politische und wissenschaftliche Institutionen gezielt Vertrauen aufbauen, um das demokratische Leben zu stärken und Desinformation oder ausgrenzenden Narrativen entgegenzuwirken. Das kann durch die Förderung von Transparenz in der Entscheidungsfindung, die Förderung digitaler Kompetenz oder die Gewährleistung des Zugangs zu politischen Informationen geschehen. Narrative, die an gemeinsame menschliche Werte wie Würde, Fairness und Sicherheit appellieren, können Spaltungen wirksamer überbrücken als die bloße Richtigstellung von Fehlurteilen. Insbesondere für jüngere Generationen muss die politische und wissenschaftliche Kommunikation berücksichtigen, dass Informationen oft über soziale Medien sowie vor Ort im Gespräch vermittelt werden. Eine sinnvolle Einbindung jüngerer Menschen erfordert daher neue und innovative Formen einer zielgruppengerechten Kommunikation.
Politische Handlungsoptionen
- Politische Teilhabe und Inklusion fördern: Die Förderung der Beteiligung junger Menschen und Zugewanderter an der Politikgestaltung könnte hilfreich sein, um die politische Teilhabe zu verbessern und somit demokratische Strukturen zu stärken.
- Die Wahrnehmung staatlicher Dienstleistungen verbessern: Bürokratische Ineffizienzen bei staatlichen Dienstleistungen, Genehmigungen und dem Zugang zu Sozialleistungen sind von zentraler Bedeutung für die Verlustnarrative. Die Reform der öffentlichen Verwaltung sollte deshalb insbesondere auf eine schnellere Reaktionsfähigkeit und größere Transparenz ausgerichtet sein.
- Überdenken der Solidarität zwischen den Generationen: Der Fokus sollte sich von einer reinen "Gerechtigkeit zwischen" hin zu einer stärkeren "Gemeinschaft unter" den Generationen verlagern. Die Freiwilligenarbeit und das bürgerschaftliche Engagement älterer Menschen sind dabei als wertvolles soziales Kapital zu fördern, während jüngere Menschen vermehrt in die Gestaltung bürgerschaftlicher Initiativen eingebunden werden sollten.
- Bekämpfung von Desinformation: Zur Bekämpfung von Desinformation sollten öffentliche Aufklärungskampagnen zu demografischen Themen wie Migration, demografischer Wandel und gesellschaftliche Teilhabe durchgeführt werden. Hierbei spielen insbesondere die Sozialen Medien eine wichtige Rolle, wo ausgrenzenden Narrativen nicht das Feld überlassen werden darf.
Wie werden soziale Ungleichheiten wahrgenommen?
Insbesondere soziale Ungleichheiten werden oftmals als treibender Faktor für den Vertrauensverlust in demokratische Institutionen diskutiert. Dabei ergeben sich durch die zunehmende Heterogenisierung der Gesellschaft infolge des demografischen Wandels neue politische Herausforderungen. Die steigende gesellschaftliche Vielfalt geht mit veränderten Wertorientierungen einher, die sich wiederum auf die Wahrnehmung gesellschaftlicher Disparitäten auswirken. In der öffentlichen Debatte dominieren dabei zwei Narrative: Zum einen, dass soziale Ungleichheiten stetig zunehmen, und zum anderen, dass die Zustimmung zum Wohlfahrtsstaat aufgrund seiner vermeintlichen Erosion abnimmt. Für beide Annahmen gibt es bislang keine eindeutige empirische Evidenz.
"Positive Entwicklungen oder politische Gegenmaßnahmen werden kaum wahrgenommen."
Stefan Liebig, Professor für Empirische Sozialstrukturanalyse an der Freien Universität Berlin, verdeutlichte, dass seit 2010 die Lohnungleichheit in Deutschland rückläufig sei, die Vermögensungleichheit seit den 1960er Jahren weitgehend stabil bleibe, sowohl der Niedriglohnsektor als auch das Armutsrisiko von Alleinerziehenden abgenommen habe, und die Erwerbsquote weiter gestiegen sei. Trotzdem bleibe die Sorge um das eigene Armutsrisiko bestehen – vor allem vor dem Hintergrund der Konjunkturprobleme in Deutschland. Positive Entwicklungen oder politische Gegenmaßnahmen würden dabei kaum wahrgenommen.
In solchen negativen Perzeptionen wirkten auch Ängste vor einem Verlust von Lebenschancen nach. Dies betreffe etwa diejenigen Menschen in den neuen Bundesländern, die nach der Wiedervereinigung ihren sozialen Status nicht halten konnten und deren Desillusionierung sich teilweise auch auf ihre Kinder ausgewirkt habe, oder jüngere Menschen, die während der COVID-19-Pandemie die Lockdown-Maßnahmen als ungerecht wahrgenommen hätten.
Für die Leistungen des Wohlfahrtsstaats gäbe es dabei verschiedene Verteilungsmechanismen, die hinsichtlich ihrer Angemessenheit je nach Kontext unterschiedlich bewertet würden: Leistung (nur diejenigen, die leisten, erwerben ein Anrecht auf Unterstützung), Gleichheit (gleiche Unterstützung für alle), Bedarf (Hilfsbedürftige werden priorisiert) und Anrecht (Privilegien müssen erworben werden). So seien bei Befragungen über die Gerechtigkeit von Verteilungsmechanismen im Allgemeinen die Kriterien "Leistung" und "Bedarf" am stärksten und "Anrecht" am schwächsten ausgeprägt. Die Bewertung dieser Verteilungsmechanismen verändere sich über die Zeit. So nähme zum Beispiel die Zustimmung zum Leistungsprinzip ab, dagegen der "Bedarf" als gerechter Verteilungsmechanismus deutlich zu. Konträr dazu bewegten sich derzeit viele Verteilungsmechanismen deutlich mehr in Richtung des Leistungsprinzips, was die Wahrnehmung von erhöhter Ungleichheit erklären könnte.
"Berichte über negative Aussagen zu Demokratie, Gerechtigkeit und Wohlfahrtsstaat erzeugen in der Regel eine höhere Aufmerksamkeit."
Die Wahrnehmung sozialer Ungleichheiten schlägt auch in Wahlergebnissen durch. So wird die wahrgenommene Perspektivlosigkeit im Osten Deutschlands als Legitimation gesehen, für rechtspopulistische Parteien zu stimmen. Auch die Medien haben einen starken Einfluss auf Gerechtigkeitsnarrative, da Berichte über negative Aussagen zu Demokratie, Gerechtigkeit und Wohlfahrtsstaat in der Regel eine höhere Aufmerksamkeit erzeugen.
Politische Handlungsoptionen
- Gesellschaftsvertrag neu justieren: Angesichts des demografischen Wandels könnte sich eine Neuausrichtung des Generationenvertrags im Sinne eines weitergefassten Gesellschaftsvertrages positiv auf die Wahrnehmung sozialer Ungleichheiten auswirken.
- In Bildung investieren: Für die Wahrnehmung sozialer Ungleichheiten spielt Bildung eine zentrale Rolle: Schulen sollten nicht nur Bewusstsein für die wachsende Bedeutung individueller Vorsorge fördern, sondern auch notwendige Kompetenzen (u.a. in Data Literacy) stärken, um ein fundierteres Verständnis sozialstatistischer Informationen – etwa zur Einkommens- und Ungleichheitsverteilung – zu ermöglichen.
- Präsenz und Transparenz staatlichen Handelns stärken: Wenn staatliche Akteure politische Entscheidungen und notwendige Einschränkungen nachvollziehbar kommunizieren, kann dies Akzeptanz, Vertrauen und die Bereitschaft zu solidarischem Handeln erhöhen sowie Kritik an vermeintlich ineffizientem oder ungerechtem Regierungshandeln verringern.
Liste der teilnehmenden Expertinnen und Experten
Förderhinweis
In diesem Jahr wurden die Berliner Demografie-Tage von Population Europe in Kooperation mit dem Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) und dem von der Europäischen Union geförderten Forschungsprojekt We-ID (Identities – Migration – Democracy) organisiert und durch das Bundesministerium für Bildung, Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMBFSFJ), das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) sowie das Bundesministerium des Innern (BMI) gefördert.