Interview mit Claudia Neu
In diesem Interview erläutert Claudia Neu, was wir aus der demografischen Perspektive über das Wahlergebnis der Bundestagswahl 2025 lernen können.
Am 23. Februar 2025 haben die deutschen Bürgerinnen und Bürger den neuen Bundestag gewählt. Das Wahlergebnis zeigt, dass vor allem rechtsextreme und populistische Positionen immer mehr Unterstützung erhalten. Angesichts der großen gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit ist diese Entwicklung für alle, die sich für nachhaltige Lösungen zur Stärkung der gesellschaftlichen Resilienz einsetzen, eine zentrale Sorge.
Claudia Neu ist Professorin ist Inhaberin des Lehrstuhls Soziologie ländlicher Räume am Department für Agrarökonomie und Rurale Entwicklung an den Universitäten Göttingen und Kassel. Darüber hinaus leitet sie das von der EU geförderte We-ID-Forschungsprojekt „Identities-Migration-Democracy“, das sich mit der Frage beschäftigt, wie wir Integration und Partizipation so gestalten können, dass trotz unterschiedlicher Identitäten sozialer Zusammenhalt entsteht.
In diesem Interview erläutert sie, was wir aus der demografischen Perspektive über das Wahlergebnis der Bundestagswahl 2025 lernen können.
English version
Welche demografischen Themen waren Ihrer Meinung nach für den Ausgang der Bundestagswahl 2025 entscheidend?
Das Thema Migration hat die zentrale Rolle auf den letzten Metern des Wahlkampfs gespielt. Die erschreckenden Anschläge von Magdeburg, Aschaffenburg und München haben hier wie ein Brandbeschleuniger gewirkt und bereits seit dem Anschlag von Solingen im August letzten Jahres alle beachtenswerten Unterschiede zwischen Arbeitsmigration, Flucht und Asyl nahezu verschwinden lassen.
In den politischen Debatten wurde Migration zu einer nationalen Bedrohung stilisiert - keineswegs nur von der AfD. In dieser Logik müssen dann die vermeintlich echten „Deutschen“ vor den kriminellen „Ausländern“ geschützt werden. Dass diese grundsätzliche Kriminalisierung von Migration und Einwanderern die Polarisierung der Gesellschaft vorantreibt und vor allem der AfD nutz, ist aus meiner Sicht eine sehr plausible Interpretation der Wahlergebnisse.
Wie lässt sich das Wählerverhalten im Kontext größerer demografischer Trends wie der Alterung unserer Gesellschaft erklären?
Wahlen werden mit den Stimmen der Alten gewonnen. Die Erst- und Jungwähler spielen für den Ausgang der Wahl nur eine verschwindend geringe Rolle. Bei dieser Bundestagswahl durften rund 2,3 Millionen Erstwähler ihre Stimme abgeben. Dies entspricht laut Statistischem Bundesamt jedoch nur einem Anteil von knapp unter vier Prozent aller Wahlberechtigten.
Schaut man auf die Jungwähler, also die 18-29-Jähringen, so sieht es kaum besser aus: Sie machen aktuell nur etwa 13 Prozent aller Wahlberechtigten aus. Dieser immer kleiner werdenden Kohorte der Erst- und Jungwähler stehen hingen immer mehr ältere Wahlberechtigte gegenüber: Bereits über 40 Prozent von ihnen sind heute 60 oder älter.
Was bedeutet dies konkret?
Die demografische Alterung verschiebt das Stimmgewicht der verschiedenen Generationen immer stärker zugunsten der höheren Altersjahrgänge. Dies bedeutet zugleich, dass die Wählermacht jüngerer Menschen immer geringer wird. Allein hierdurch geraten die Interessen der Jüngeren schon heute und wohl erst recht in der Zukunft immer weiter ins Hintertreffen. Gleichzeitig belegen Studien, dass die Kinder und Jugendlichen sich von der Politik vergessen und mit ihren Sorgen nicht ernstgenommen fühlen. Viele Jugendliche zweifeln deshalb daran, selbst die Politik beeinflussen zu können.[1]
Wählen die jungen Menschen deshalb so deutlich anders als die älteren Kohorten?
Die Fokussierung auf das Thema Migration im Wahlkampf 2025 hat zu einer Vernachlässigung anderer Themen geführt wie etwa Klimawandel, soziale Ungleichheit oder Generationengerechtigkeit. Das aber genau sind die Themen, die jungen Menschen wichtig sind. So war dann auch die Linkspartei die große Gewinnerin bei den jungen Wählern (25% der 18-24-Jährige stimmten für die Linkspartei).
Zudem haben sich die Linken klar gegen die AfD positioniert, was vielen Jüngeren ein wichtiges Anliegen ist. Doch die Jugend scheint polarisiert in ihren Reaktionen auf die Zukunftssorgen, denn auf der anderen Seite des politischen Spektrums schnitt auch die AfD bei den jüngeren Altersgruppen mit gut einem Fünftel der Stimmen erfolgreich ab.
Welche Auswirkungen haben die sozialen und wirtschaftlichen Unterschiede zwischen ländlichen und städtischen Gebieten auf das Wählerverhalten?
Das Gefühl des „Abgehängtseins“ gepaart mit der Furcht vor Wohlstandsverlusten zeigte Wirkung an der Wahlurne. Auch wenn die CDU als Siegerin aus der Bundestagswahl hervorgegangen ist, so haben die Parteien jenseits der Mitte deutlich zugelegt: Vor allem die AfD konnte in vielen ländlichen Räumen bei den Zweitstimmen punkten und das nicht nur im Osten der Republik. Die schwächelnde Autoindustrie und die daraus resultierende Angst vor Arbeitsplatzverlust und sozialem Abstieg hat sicher auch im ländlichen Baden-Württemberg so manchen in die Arme der AfD getrieben.
Allerdings erzielte die Linkspartei mit ihrem Thema soziale Gerechtigkeit und Friedenspolitik ebenfalls ordentliche Wahlerfolge – nicht nur in Städten, sondern auch in ländlichen Räumen. Die Grünen haben viele Stimmen verloren, da sie mit ihrer Klimapolitik eher abschreckend wirkten. So bleiben sie weiterhin die Partei der Großstädter, die im ländlichen Osten teilweise unter der fünf Prozenthürde gelandet sind.
Nun sollen Milliarden für die Infrastruktur ausgegeben werden. Wie bewerten Sie das?
Ein Infrastrukturpaket ist mehr als überfällig. Doch es bleibt die große Sorge, dass die immense Neuverschuldung in Kombination mit den Kosten der demografischen Alterung nun allein von den zukünftigen Generationen getragen werden muss, was ihre Zukunftschancen schmälern könnte. Neben einer neuen Sicherheits- und Infrastrukturpolitik brauchen wir also zugleich einen gerechten Generationenvertrag.
Ob die großen Investitionspläne auch umgesetzt werden können, wird nicht zuletzt davon abhängen, ob ausreichend Arbeitskräfte für den Brückenbau, die ICE Trassen oder die Instandsetzung der Wasserversorgung verfügbar sind. Damit landen wir zuletzt wieder beim Thema Migration. Notwendig ist deshalb eine neue Migrationspolitik, die sich von populistischen Parolen fernhält und Zugewanderten Lebens- und Arbeitschancen bietet.
Anmerkungen:
[1] Neu, C., Küpper, B., & Luhmann, M. (2023). Studie „Extrem einsam? - Die demokratische Relevanz von Einsamkeitserfahrungen unter Jugendlichen in Deutschland“ (pp. 1–88). Das Progressive Zentrum. https://www.progressives-zentrum.org/wp-content/uploads/2023/02/Kollekt_Studie_Extrem_Einsam_Das-Progressive-Zentrum.pdf
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