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Policy Insights

Migration und Integration in Europa neu denken: Vom Krisenmanagement zu demokratischer Inklusion

von We-ID Expert*innen Claudia Neu, Hill Kulu, Ljubica Nikolic, Öndercan Muti, Sarah Christison

Lokale kulturelle und regionale Kontexte prägen stark die Wahrnehmung von Migration. Während die Migrationspolitik der EU oft zwischen Management und Kontrolle einerseits sowie Integration und Inklusion andererseits schwankt, findet Integration letztlich in lokalen Gemeinschaften und am Arbeitsplatz statt. Neben Beschäftigung und wirtschaftlicher Teilhabe können diese sozialen Räume sowohl Inklusion als auch demokratische Kultur fördern – schließlich beginnt Demokratie auch an der Arbeitsstätte.
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Source: Jumpingsack / Adobe Stock

Die Migrationspolitik der EU bleibt bisher zwischen Krisenmanagement und langfristigen Integrationszielen gefangen. Asylsysteme, Grenzkontrollen und Notfallmaßnahmen dominieren die öffentliche und politische Aufmerksamkeit, während strukturelle Probleme wie der demografische Wandel und der Arbeitskräftemangel wirksame Integrationsmaßnahmen erfordern, die sich auf Beschäftigung und soziale Teilhabe konzentrieren. Dennoch werden Zugehörigkeit, Fairness und demokratische Teilhabe in den bestehenden EU-Rahmenwerken nach wie vor zu wenig berücksichtigt.

Die Ergebnisse des We-ID-Agenda-Setting-Workshops und die begleitende quantitative Analyse bieten eine Vision zur Überbrückung dieser Lücken – damit die Integrationspolitik zu sozialem und territorialem Zusammenhalt, demokratischem Vertrauen und nachhaltiger Entwicklung beiträgt. Ohne die Auseinandersetzung mit diesen Dimensionen läuft Europa Gefahr, die Kluft zwischen Regionen, Generationen und Bürgern – mit oder ohne Migrationshintergrund – zu vertiefen.

Arbeitsplätze als demokratische Arenen

In Debatten auf EU- und nationaler Ebene wird Beschäftigung nach wie vor hauptsächlich unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten betrachtet – Arbeitskräftemangel, Qualifikationen und Anerkennung von Abschlüssen. Migration wird oft als demografisches oder wirtschaftliches Allheilmittel dargestellt, nicht als gesellschaftlicher Prozess. Integration durch Arbeit kann jedoch nicht gelingen, wenn die Mittel für Sprachkurse, Mentoring und lokale Integrationsmaßnahmen gekürzt werden oder wenn Migranten mit bürokratischen Hindernissen und Diskriminierung konfrontiert sind.

Arbeitsplätze können als „Alltagsdemokratien” fungieren: Umgebungen, in denen Rechte, Vertrauen und Zugehörigkeit in der Praxis gelebt werden. Menschen entwickeln Zusammenhalt durch wiederkehrende Begegnungen an Sozialen Orten (Kersten et al., 2022), darunter auch am Arbeitsplatz. Wenn Unternehmen, Gewerkschaften und Kommunalverwaltungen gemeinsam Vielfalt fördern und fordern, stärken Arbeitsplätze sowohl die wirtschaftliche als auch die soziale Integration.

Allerdings sind im Ausland geborene Arbeitnehmer in Gewerkschaften und Betriebsräten nach wie vor unterrepräsentiert, und Diskriminierung am Arbeitsplatz korreliert stark mit geringerer Bürgerbeteiligung und geringerem Vertrauen in Institutionen (OECD–Europäische Kommission, 2023; FRA, 2023). Kommunen gehen oft von der Annahme des „idealen Migranten” aus, der sich leicht und still in Arbeitsplätze und Gemeinschaften integriert – eine Erwartung, die ohne strukturelle Unterstützung selten erfüllt wird.

Politische Maßnahmen:

  • Anerkennung von Arbeitsplätzen als zivile Räume: Unterstützung von Arbeitnehmerräten, Diversitätsmanagement und sozialer Dialog als Instrumente für Integration und Demokratie.
  • Einbettung von Kriterien für „demokratische Arbeitsplätze” in das Programm des Kohäsions- und Sozialfonds.

Jugend und sich wandelnde Einstellungen

Umfragen wie Eurobarometer und nationale Meinungsumfragen zeigen eine wachsende Ambivalenz unter jüngeren Europäern – einschließlich derjenigen mit Migrationshintergrund – gegenüber Institutionen und Demokratie. Viele äußern eher Zynismus als Gleichgültigkeit: Sie wünschen sich Beteiligung, haben jedoch nur begrenzten Zugang zu politischen Prozessen und Akteuren, insbesondere in kleineren Städten und ländlichen Regionen (Vorländer et al., 2025).

Die EU-Jugendstrategie (2019–2027) identifiziert ebenfalls diese Engagementlücke – ein Defizit an demokratischer Infrastruktur, jedoch keine Werteverschiebung bei den Jugendlichen. Der Vertrauensverlust der Jugend in demokratische Institutionen resultiert aus der Erfahrung, mit den eigenen Sorgen politisch weder ernst genommen zu werden,  noch angemessen repräsentiert zu sein, nicht aus Apathie.

Politische Maßnahmen:

  • Integration von Mechanismen zur Beteiligung junger Menschen (lokale Jugendräte, digitale Versammlungen, kulturelle Initiativen) in die Migrations- und Integrationspolitik.
  • Ausrichtung der EU-Jugend- und Kohäsionsfonds auf ländliche und östliche Regionen, in denen die zivilgesellschaftlichen und kulturellen Infrastrukturen am schwächsten sind.
  • Behandlung digitaler Räume als zivilgesellschaftliche Räume – Aufbau demokratischer Inhaltsökosysteme, um populistischen Narrativen entgegenzuwirken.

Ländliche Kluft und entvölkerte Gebiete

Migration kann ländliche und abgelegene Regionen wiederbeleben, jedoch nur, wenn sie mit zugänglichen Dienstleistungen, fairen Beschäftigungsbedingungen und einem Gefühl der Zugehörigkeit einhergeht.

Untersuchungen aus Schottland (EAG 2025) zeigen, dass viele Menschen Ende zwanzig und in ihren Dreißigern in ländliche Gebiete ziehen oder dorthin zurückkehren, um eine Familie zu gründen oder nach höherer Lebensqualität zu suchen. Internationale Migration kann diese Trends ergänzen und dazu beitragen, die Überalterung und Entvölkerung auszugleichen – wenn beide Partner vor Ort Arbeit und Kinderbetreuung finden.

Wo solche Möglichkeiten bestehen, bleiben Migranten und Rückkehrer eher vor Ort, investieren und engagieren sich bürgerschaftlich. Ohne diese lokalen Gelegenheitsstrukturen vertiefen sich die Ressentiments auf dem Land und die politische Polarisierung – wie der JRC 2025 Foresight Report zeigt.

Politische Maßnahmen:

  • Die Integration des ländlichen Raums zu einem zentralen Kohäsionsziel nach 2027 machen.
  • Finanzierung von multifunktionalen Gemeindezentren, die Dienstleistungen, Integration und Beteiligungsräume kombinieren.
  • Unterstützung lokaler Narrative, die Migration als Teil der demografischen Erneuerung und nicht als Störung darstellen.

Geschlechtssensible Integration

In ganz Europa reproduziert die Familienmigration oft traditionelle Arbeitsmuster: Ein Partner, in der Regel der Mann, arbeitet, während der andere, in der Regel die Frau, zu Hause bleibt (DeZIM, 2019; Eurostat, 2023). Dieses Muster ist eher auf rechtliche und strukturelle Hindernisse – eingeschränkte Arbeitsrechte, Mangel an bezahlbarer Kinderbetreuung und Schwierigkeiten bei der Umschulung – als auf persönliche Präferenzen zurückzuführen. 

Die Erschließung des Potenzials von Migrantinnen ist für die Integration, die demografische Erneuerung und die Gleichstellung der Geschlechter von entscheidender Bedeutung. Beschäftigung stärkt das Zugehörigkeitsgefühl von Frauen zu ihren Gemeinden und Regionen, ermöglicht gleichzeitig die Elternschaft und bestimmt die Fertilitätsmuster unter Migrantenfamilien – ein wesentlicher Faktor für die demografische Erneuerung in Gebieten mit Bevölkerungsrückgang (Mikolai & Kulu, 2025).

Politische Maßnahmen:

  • Einführung von Gleichstellungsbenchmarks bei der Integrationsfinanzierung.
  • Bereitstellung von Kinderbetreuungs-, Weiterbildungs- und Bürgerbeteiligungsangeboten als gemeinsame Integrationsmaßnahmen.
  • Sicherstellung der Vertretung von Migrantinnen in lokalen und nationalen Beratungsgremien.

Das Vertrauensparadoxon

Das Vertrauen in staatliche Institutionen wie Politik und Regierung hat in ganz Europa abgenommen, was die demokratische Legitimität in Frage stellt. Daten der Europäischen Sozialerhebung (2023) zeigen jedoch, dass Migranten oft ein höheres Vertrauen in demokratische Institutionen äußern als einheimische Bürger – obwohl ihnen formelle Vertretungskanäle fehlen. Diese Dynamik offenbart jedoch zahlreiche Vertrauenslücken in ganz Europa, insbesondere in Regionen mit hohem Misstrauen, da sich der Optimismus der Migranten selten in Wahlbeteiligung niederschlägt. Selbst unter den Wahlberechtigten bleibt die Wahlbeteiligung geringer als unter der einheimischen Bevölkerung, die paradoxerweise weniger Vertrauen in dieselben Institutionen hat.

Innerhalb der Migrantengemeinschaften nimmt das Vertrauen auch über Generationen hinweg ab, was soziale Barrieren und Ausgrenzung widerspiegelt. Um dieses „Vertrauensparadoxon” anzugehen, sind eine transparente lokale Regierungsführung und gemeinsame Entscheidungsfindung erforderlich.

Politische Maßnahmen:

  • Institutionalisierung lokaler Demokratiepakte – partizipative Räte, in denen Migranten, Arbeitgeber und Einwohner gemeinsam die Prioritäten der Integration festlegen und Entscheidungsprozesse mitgestalten.
  • Erhöhung der Transparenz und der Feedbackschleifen in der lokalen Regierungsführung, um Reaktionsfähigkeit und Fairness zu demonstrieren.
  • Einbettung von Indikatoren für „Vertrauensbildung“ – sichtbare Ergebnisse, wahrgenommene Fairness, Inklusivität – in den Bewertungsrahmen der EU-Kohäsionspolitik.

Ausblick

Aktuelle Daten und die diskursive Einbindung von Interessengruppen durch We-ID lassen einen gemeinsamen Schluss zu: Demokratische Resilienz lässt sich nicht allein durch wirtschaftliches Wachstum von oben nach unten erreichen. Vertrauen, Inklusion und lokale Eigenverantwortung sind ebenso wichtig.

Die künftige Migrations- und Integrationsstrategie Europas wird in den nächsten Jahren ausgearbeitet und verabschiedet werden. Sie sollte:• Integration als demokratische Infrastruktur behandeln – in soziales Vertrauen, bürgerschaftliches Engagement und faire Vertretung investieren.

  • Migrations-, Kohäsions- und Jugendstrategien auf Zugehörigkeit und Teilhabe ausrichten.
  • Ortsbezogene, geschlechtergerechte und generationsübergreifende Inklusion als Rückgrat einer nachhaltigen Demokratie stärken.

 

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We-ID_EU

 

Acknowledgement

We-ID: Identities - Migration - Democracy is a joint research project funded by the European Union in the program HORIZON 2.2.1 Culture, Creativity and inclusive Society - Democracy and Governance. Grant agreement ID: 101177925

Literatur

Deutsches Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) (2019). Labour Force Potential of Spouses Moving in from Other EU Countries and Third Countries. Berlin: DeZIM Institute. https://www.dezim-institut.de/en/projects/project-detail/labour-force-potential-of-spouses-moving-in-from-other-eu-countries-and-third-countries-3-08/ 

EAG (2025). Rural Scotland – Trajectories of Young People and Young Adults: Report. Expert Advisory Group on Migration and Population, Scottish Government. https://www.gov.scot/publications/migration-mobilities-trajectories-young-people-young-adults-rural-scotland/ 

European Union (2019). EU Youth Strategy 2019–2027. Brussels: European Commission. https://youth.europa.eu/strategy_en

European Union Agency for Fundamental Rights (FRA) (2023). Being Black in the EU: Second Survey on Discrimination and Hate Crime Against People of African Descent in the EU. Luxembourg: Publications Office of the European Union. https://fra.europa.eu/sites/default/files/fra_uploads/fra-2023-being-black_in_the_eu_en.pdf 

Eurostat (2023). Migrant Integration Statistics – Employment Conditions. Luxembourg: European Commission, Publications Office of the European Union. https://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/SEPDF/cache/53712.pdf

ESS (2024). PROSPECTUS. London: European Research Infrastructure Consortium (ERIC).

Joint Research Centre (JRC) (2025). Strategic Foresight Report 2025, Office of the European Union. https://commission.europa.eu/strategy-and-policy/strategic-foresight/2025-strategic-foresight-report_en

Kersten, J., Neu, C., & Vogel, B. (2022). Das Soziale-Orte-Konzept. Bielefeld: Transcript Verlag.

Mikolai, J., & Kulu, H. (2025). The partnership, fertility, and employment trajectories of immigrants in the United Kingdom: An intersectional life course approach using three-channel sequence analysis. Demographic Research, 53(10), 263–296. https://www.demographic-research.org/articles/volume/53/10 

OECD / European Commission (2023). Indicators of Immigrant Integration 2023: Settling In. Paris: OECD Publishing. https://doi.org/10.1787/1d5020a6-en

Vorländer, H., Herold, M., Hormig, F., & Otteni, C. (2025). Politische Polarisierung in Deutschland 2025: Polarisierungsbarometer. Dresden: Mercator Forum Migration und Demokratie (MIDEM).

Additional Information

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